- Medizinnobelpreis 1993: Richard John Roberts — Phillip Allen Sharp
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Der Amerikaner und der Brite erhielten den Nobelpreis »für die Identifizierung des diskontinuierlichen Aufbaus einiger Erbanlagen von Zellorganismen«.BiografienRichard John Roberts, * Derby 6. 9. 1943; 1968 Promotion, Tätigkeit an diversen Forschungseinrichtungen in den USA, seit 1972 am Cold Spring Harbor Laboratory, 1992 Berufung zum Direktor der Forschungsabteilung der New England Biolabs in Beverly, Massachusetts.Phillip Allen Sharp, * Falmouth (Kentucky) 6. 6. 1944; ab 1971 am Cold Spring Harbor Laboratory bei New York, seit 1974 Forschungs- und Lehrtätigkeit am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, dort zwischenzeitliche Leitung des Krebsforschungszentrums und der Abteilung für Biologie; Mitbegründer des Unternehmens Biogen.Würdigung der preisgekrönten LeistungDas Erbgut höherer Organismen ist viel komplizierter aufgebaut, als Forscher zunächst erwartet hatten. Zu dieser Erkenntnis kamen Richard Roberts und Phil Sharp Ende der 1970er-Jahre.Längst war damals bekannt, dass der gesamte Bauplan eines Lebewesens verschlüsselt auf einer Nucleinsäure gespeichert wird, die Biochemiker als DNS (Desoxyribonucleinsäure) kennen. In diesem Riesenmolekül sind vier Nucleotide genannte Bausteine zu einer sehr langen Kette verknüpft. Jeweils zwei dieser Ketten lagern sich zu einem Doppelstrang zusammen, der wie eine Wendeltreppe in sich gewunden ist (Nobelpreis 1962). Nach Vorlage des Erbguts sollen Proteine hergestellt werden, die sich ihrerseits aus anderen Molekülen, Aminosäuren genannt, aufbauen. Die Reihenfolge dieser Aminosäuren im Protein wird durch die Reihenfolge der Nucleotide in der DNS vorgegeben. Drei Nucleotide verschlüsseln dabei jeweils eine Aminosäure.Eine fehlerhafte KopieDie Zelle übersetzt die DNS-Sequenz jedoch nicht direkt in Proteine. Stattdessen entsteht zunächst eine Abschrift der einzelnen Erbinformationen, die RNS (Ribonucleinsäure) genannt wird. Eigentlich sollte diese Kopie ein exaktes Abbild des Originals sein. Bei Bakterien ist das auch der Fall, nicht aber bei höheren Organismen. Selbst bei der recht primitiven Hefe sind sehr viele RNS-Abschriften erheblich kürzer als ihre Vorlage. So kann beispielsweise das Gen des Ovalbumins (Protein des Eiklars) in der DNS von Vögeln rund viermal so lang sein wie die davon kopierte RNS.Erst Phil Sharp und Richard Roberts entdeckten bei einem Erreger von Erkältungskrankheiten, was bei diesem geheimnisvollen Schwund genetischen Materials wirklich passiert. Unabhängig voneinander analysierten die Wissenschaftler die Kopien der Erbinformationen des Adenovirus. Zunächst entsteht tatsächlich eine exakte Abschrift der DNS-Vorlage. Anschließend aber werden im Zellkern ein oder mehrere Abschnitte aus der RNS herausgeschnitten. Die verbleibenden Teile werden zu einer verkürzten RNS zusammengeschweißt. Der Fachbegriff »Splicing« (englisch; Zusammenfügen) für diesen Vorgang hat rund um den Globus längst Eingang in die Molekularbiologensprache gefunden. Erst die kurze RNS-Version wird dann von der Zelle in ein Protein übersetzt.Die beim Adenovirus entdeckten Prozesse wiesen Forscher später bei fast allen höheren Organismen nach. Die DNS besteht also nicht durchgehend aus Erbinformationen. »Diese Entdeckung verstieß gegen alle Dogmen — und das hat mir daran gefallen«, kommentierte Richard Roberts das Ergebnis seiner Arbeit. Seit er und Sharp zu dieser Erkenntnis kamen, zeichnen Wissenschaftler ein neues Bild der DNS: Zwischen den Bereichen, die später in Proteine übersetzt werden, liegen Abschnitte, die im fertigen Produkt nicht wieder auftauchen. Die übersetzten Fragmente heißen in der Fachsprache »Exons«, die herausgeschnittenen »Introns«. Legt man die fertige RNS und die DNS aneinander, ragen die Introns als wirres Knäuel aus einem langen Doppelstrang heraus, der von den Exons gebildet wird.Deutungsprobleme und ErkenntnisgewinnZunächst hatten die Wissenschaftler erhebliche Probleme, hinter diesen komplizierten Splicing-Vorgängen einen Sinn zu erkennen. Mit der Zeit kristallisierten sich jedoch Einzelheiten heraus, die zugleich einen Einblick in die Entstehungsgeschichte von Exons und Introns geben. So trennen Introns oft solche Exons voneinander, die jeweils als Vorlage für einen anderen Abschnitt des Proteins dienen. Bestimmte Proteine stecken zum Beispiel in der Wand einer Zelle, sodass sich ein Teil im Zellinneren befindet, während der Rest nach außen ragt. Dort findet sich dann etwa ein Rezeptor, der Signale empfängt. Der Proteinteil in der Zellwand leitet die Information weiter, während im Inneren der Rest des Proteins das Signal interpretiert und an verschiedene Teile der Zelle weiterleitet. In solchen Fällen sind der Rezeptor sowie die sonstigen Proteinteile häufig in einzelnen, aufeinander folgenden Exons verschlüsselt.Ein Gesamtprotein kann sich aus der Kombination verschiedener Exons bilden. Exons sind daher nichts anderes als die komplette Erbinformation für große Bausteine eines Proteins. Der Baustein »Rezeptor« könnte demnach rasch an ein anderes Protein angehängt werden. Dort empfängt er das gleiche Signal wie zuvor, während der Rest des Proteins eine ganz andere Reaktion auslösen kann.Manchmal verdoppeln sich Exons auch. Dadurch könnte ihre Empfindlichkeit verbessert werden — zwei Rezeptoren werden zum Beispiel durch weniger Signale aktiviert als einer. Solche Verdoppelungen können gleichzeitig auch als »Spielball der Evolution« dienen. Während Mutationen eine der Kopien verändern, bis schließlich ein neues Protein entsteht, sorgt die andere Kopie dafür, dass weiterhin das Ausgangsprotein produziert wird. Dieser elegante Weg zur Entwicklung neuer Proteine scheint in der Evolution sehr häufig genutzt worden zu sein. So ähneln sich viele Gene stark in ihrer Grundstruktur. Etliche Forscher nehmen daher an, dass es einst nur sehr wenig Ur-Gene und Ur-Exons gab, aus denen sich im Lauf der Zeit die heutige Vielfalt entwickelt hat. In vielen Bereichen konnten »Gen-Familien« identifiziert werden, die eindeutig voneinander abstammen.Der Aufbau der DNS aus Exons und Introns bietet aber nicht nur Vorteile, denn Fehler beim Splicing können auch Krankheiten auslösen. Bekannt ist beispielsweise eine Fehlfunktion bei der Bildung des aus zwei Proteinketten bestehenden roten Blutfarbstoffs, eine so genannte Thalassämie. Bei Patienten, die unter der Erbkrankheit Beta-Thalassämie leiden, setzt das Splicing bei der Betakette an der falschen Stelle an: Statt eines kompletten Introns wird nur ein Teil davon herausgeschnitten. Die entstehende RNS kann dann nicht mehr in das richtige Protein übersetzt und der rote Blutfarbstoff nicht fehlerfrei gebildet werden. In anderen Fällen werden Exons aus verschiedenen Erbinformationen durch falsches Splicing kombiniert. Ein solches Fusionsgen ist die Ursache für die chronisch myeloische Leukämie, eine bestimmte Form von Blutkrebs.Als Phil Sharp und Richard Roberts das Splicing entdeckten, gaben sie nicht nur der Evolutionsbiologie völlig neue Denkanstöße. Das Nobelpreiskomitee würdigte die Arbeit der Wissenschaftler als »... fundamental wichtig für die heutige Grundlagenforschung in der Biologie, aber auch für die medizinische Forschung über die Entstehung von Krebs und anderen Krankheiten.«R. Knauer, K. Viering
Universal-Lexikon. 2012.